Montag

Buchtipp - Februar 2007

Kennt Ihr jemanden dem es vielleicht momentan nicht so gut geht, und wisst nicht wie Ihr diesem Menschen eine kleine Freude machen könntet, ihm vielleicht sogar helfen zu sehen, dass es (fast) immer jemanden gibt dem es noch schlechter geht als uns selbst, und egal wie schlimm es auch sein mag, es am Ende doch gar nicht so schlimm ist wie es momentan vielleicht aussieht?


Wir haben vor kurzem ein brillantes Büchlein geliehen bekommen, das in so einem Falle recht hilfreich sein könnte, und möchten es an dieser Stelle empfehlen. Vielleicht kennt ihr es ja auch bereits: "Oskar und die Dame in Rosa" besteht aus 13 Briefen des 10-jährigen Leukämiekranken Oskar, der erfahren hat, dass er bald sterben muss. Sein einziger Trost ist die einzige Person um ihn die ihm ehrlich und "echt" erscheint, die alternde Krankenpflegerin und (angebliche) ehemalige Weltklasse-Catcherin Oma Rosa, die ihm empfiehlt, keine Angst vor dem Unbekannten zu haben, sondern sich an Gott zu wenden, und das Leben trotz allem noch voll auszukosten.
Hier ein Auschnitt des Buchs (mit herzlichem Dank an den Theater-Verlag Desch GmbH München):

"...Wollen wir nicht den lieben Gott besuchen?"
"Ach, haben Sie Seine Adresse rausgekriegt?"
"Ich glaube, Er ist in der Kapelle."
Oma Rosa zog mich an, als würden wir zum Nordpol aufbrechen, sie nahm mich in die Arme und führte mich zu der Kapelle, die sich im Krankenhausgarten befindet, noch hinter den vereisten Grünflächen, na ja, Dir brauche ich ja nicht zu erklären wo Dein Zuhause ist.
Ich habe natürlich einen Riesenschreck bekommen, als ich Dich dort hängen sah, als ich Dich in diesem Zustand gesehen habe, fast nackt, ganz mager an Deinem Kreuz, überall Wunden, die Stirn voller Blut durch die Dornen, und der Kopf, der Dir nicht mal gerade auf den Schultern saß. Das hat mich an mich selbst erinnert. Ich war empört. Wäre ich der liebe Gott, wie Du, ich hätte mir das nicht gefallen lassen.
"Oma Rosa, im Ernst: Sie als Catcherin, Sie als ehemaliger Superchamp, Sie werden doch so einem nicht vertrauen!"
"Warum nicht, Oskar? Würdest du dich eher einem Gott anvertrauen, wenn du einen Body-builder vor dir hättest, mit wohlgeformten Fleischpaketen, prallen Muskeln, eingeölter Haut, kahlgeschoren und dem vorteilhaften Tanga?"
"Ähm."
"Denk nach, Oskar. Wem fühlst du dich näher? Einam Got der nichts fühlt, oder einem Gott der Schmerzen hat?"
"Einem der Schmerzen hat, natürlich. Aber wenn ich Er wäre, wenn ich der liebe Gott wäre, wenn ich so wie Er alle Möglichkeiten hätte, würde ich mich um die Schmerzen drücken."
"Niemand kann sich um die Schmerzen drücken. Weder Gott noch du. Weder deine Eltern noch ich."
"Gut, einverstanden. Aber wozu gibt es überhaupt Schmerzen?"
"Jetzt kommen wir der Sache näher. Es gibt Schmerzen und Schmerzen. Schau die mal Sein Gesicht an. Schau mal ganz genau hin. Sieht Er so aus, als ober Er Schmerzen hätte?"
"Nee. Komisch. Er sieht nicht so aus, als ob Ihm etwas weh täte."
"Eben. Siehst du, Oskar, man muss zwischen zwei Arten von Schmerzen unterscheiden, dem körperlichen und dem seelischen Schmerz. Den körperlichen Schmerz hat man zu ertragen. Den seelischen Schmerz hat man sich selbst ausgewählt."
"Versteh' ich nicht."
"Wenn man dir Nägel in die Hände haut oder in die Füße, dann kannst du nicht verhindern, dass dir das weh tut. Das musst du aushalten. Dagegen muss dir der Gedanke zu sterben nicht weh tun. Du weißt ja nicht, was das bedeutet. Also hängt es ganz allein von dir ab."
"Kennen Sie Leute, die sich bei dem Gedanken an den Tod freuen?"
"O ja, solche kenne ich. Meine Mutter zum Beispiel. Auf ihrem Sterbebett hat sie ganz neuguerig gelächelt, sie war voller Ungeduld, sie hatte es eilig herauszufinden, was passieren würde."
Dazu fiel mir nichts mehr ein. Da mich aber interessierte, wie es weiter ging, habe ich etwas Zeit verstreichen lassen und darüber nachgedacht, was sie mir bis jetzt gesagt hatte.
"Den meisten Menschen fehlt allerdings diese Neugier. Sie klammern sich an das, was sie haben, wie eine Laus an das Ohr von einem Glatzkopf... Die Menschen haben Angst vor dem Tod, weil sie angst vor dem Unbekannten haben. Aber was ist eigentlich das Unbekannte? Ich würde dir empfehlen, keine Angst zu haben, Oskar, sondern vertrauen. Schau dir mal das Gesicht von Gott da am Kreuz an: den körperlichen Schmerz muss Er ertragen, aber Er emfindet keinen seelischen Schmerz, denn Er hat Vertrauen. Deshalb bereiten Ihm die Nägel nicht so große Schmerzen. Er sagt Sich immer wieder: 'Ich leide zwar Schmerzen, aber das kann kein Leid sein.' Siehst Du! Darin liegt der Vorteil, wenn man glaubt. Das wollte ich dir zeigen."
"Okay, Oma Rosa, wenn ich mal Schiss kriege, werde ich mich dazu zwingen, Vertauen zu haben."
Sie gab mir einen Kuss. Eigentlich war es sehr schön in dieser leeren Kirche mit Dir, lieber Gott, weil Du so friedlich ausgesehen hast.

***


Lieber Gott,

vielen Dank, dass Du gekommen bist.
Du hast den richtigen Augenblick erwischt, denn es ging mir gar nicht gut. ...
Heute beim Aufwachen ... habe ich geahnt dass Du kommen würdest. Es war früh am Morgen. Ich war ganz allein auf der Welt. Es war so früh, dass die Vögel noch geschlafen haben, dass sogar die Nachtschwester, Madame Ducru, eingenickt war --, und Du hast versucht, die Morgendämmerung zu fabrizieren. Es ist Dir schwergefallen, aber Du hast Dich in's Zeug gelegt. Der Himmel wurde fahl. Du hast die Luft ganz weiß gepustet, dann grau, dann blau, Du hast die Nacht vertrieben und die Welt zum Leben erweckt. Du hast nicht aufgegeben. Da habe ich den Unterschied zwischen Dir und uns verstanden: Du bist ein fleißiger Junge, der nie müde wird! Immer bei der Arbeit. Und da ist der Tag! Und da ist die Nacht! Und da ist der Frühling! Und da ist der Winter!...Was für eine Kraft!
Ich habe gespürt dass Du da warst. Dass Du mir Dein Geheimnis verraten hast: Schau jeden Tag auf diese Welt, als wäre es das erste Mal.
Also habe ich Deinen Rat befolgt und mich mächtig angestrengt. Zum ersten Mal. Ich habe auf das Licht geschaut, die Farben, die Bäume, die Vögel, die Tiere. Ich habe gespürt, wie die Luft durch meine Nase strömt und wie sie mich atmen lässt. Ich habe Stimmen auf dem Korridor gehört, die wie im Gewölbe einer Kathedrale hoch nach oben steigen. Ich habe gespürt, wie ich lebe. Ich bebte vor reiner Freude. Vor Glück, dazusein. Ich war überwältigt.
Ich danke Dir, lieber Gott, dass Du das für mich getan hast. Ich hatte das Gefühl, dass Du mich an die Hand genommen und mich mitten in das Herz des Geheimnisses geführt hast, um das Geheimnis anzuschauen. Danke.

***

...Was das Leben für ein komisches Geschenk ist. Am Anfang überschätzt man dieses Geschenk, man glaubt, man lebt ewig. Später unterschätzt man es, man findet es kümmerlich, zu kurz, am liebsten würde man es wegschmeißen. Am Ende wird einem klar, dass es gar kein Geschenk ist, sonder nur geliehen. Also versucht man, es sich zu verdienen. Ich, der ich ich hundert Jahre alt bin, ich weiß, wovon ich rede. Je älter man wird, um so mehr Findigkeit muss man entwickeln, damit man das Leben zu schätzen weiß. Man muss feinfühliger werden, ein Künstler. Jeder hergelaufene Dummkopf kann das Leben mit zehn oder zwanzig genießen, aber um es mit hundert noch zu schätzen, wenn man sich nicht mehr rühren kann, muss man seinen Verstand benutzen.


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